Gegensätzliche Erinnerungskulturen
Im Mai diesen Jahres wurden in Moskau die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes und die Befreiung vom Hitlerfaschismus
zelebriert. Die Diskussionen in Polen und den baltischen Staaten, die ihren Ausdruck in einer Absage der baltischen Repräsentanten mit Ausnahme der lettischen Präsidentin Vike-Freiberga fanden, zeigen, ein wie
tiefer Riss durch die Erinnerungskulturen des neuen Europas geht. In den meisten ehemaligen Ostblockstaaten gilt das Kriegsende mitnichten als ein Datum der Befreiung, sondern als der Beginn neuer Repressionen
gefolgt vom Aufbau einer weiteren Diktatur. Hubertus Knabe spitzt diese Art der Geschichtsbetrachtung in seinem in diesem Jahr erschienenen Buch “Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland” auf die These
zu, dass der Osten Deutschlands erst 1989 befreit worden sei.
Seinen Ausdruck fanden die neuen Repressionen der Sowjetischen Besatzungsmacht zuallererst in der Errichtung von Speziallagern, die zum
Teil auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager wie z.B. in Sachsenhausen und Buchenwald
installiert wurden. Die Auflösung dieser Speziallager jährt sich nun - von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt - dieses Jahr zum 55. mal.
Anlässlich dieses Jahrestages veranstalteten die Gedenkstätte Buchenwald in Weimar gemeinsam mit der Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur eine Konferenz unter dem Titel: Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung bis heute. Anwesend waren vor allem namhafte
Historiker, Soziologen und Museumspädagogen der verschiedenen Gedenkstätten, die sich seit 1989 der öffentlichen Präsentation dieses Teils der deutsch-deutschen Geschichte widmen. Anwesend waren, um nur einige zu
nennen, der Historiker und Politologe Bernd Faulenbach (gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsvorstandes der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur), der Historiker und Journalist Norbert Frei
(gleichzeitig Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) und der Historiker und Erziehungswissenschaftler Volkhard Knigge (gleichzeitig Direktor der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora).
Um es an dieser Stelle ganz deutlich zu sagen, es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine gesicherten Erkenntnisse, wie groß der Anteil
derer war, die unschuldig oder im Hinblick auf eine Sowjetisierung störend, in diese zur Entnazifizierung bestimmten Lager kamen. Fakt ist nur, es gab sie und sie mussten unter härtesten Bedingungen Monate bis
Jahre im Lager verbringen. Ein besonderes Problem stellt die Rehabilitierung dar, da sie nur für Häftlinge mit Verurteilung Anwendung finden kann. Der größere Teil der Speziallagerinsassen saß jedoch ohne Urteil
ein. Unter Fachleuten wird von 70 bis 80% kleinerer und mittlerer Funktionsträger ausgegangen. Das trifft auch für die Zeitzeugen zu, die heute versuchen die Erinnerung und das Gedenken an die unmenschliche
Behandlung nicht ins Vergessen geraten zu lassen. Ist ein 16jähriger, der Ortsführer der Hitlerjugend war, nach dem Krieg eine Waffe gefunden hat und unter Werwolfverdacht 5 Jahre eingesessen hat unschuldig, ein
Mitläufer oder ein Nazi-Kriegsverbrecher? Ist eine Person, die Opfer sowjetischer Repression wurde durch die Schuld der Deutschen am Kriegsausbruch und Nationalsozialismus weniger Opfer als die Opfer des
Nationalsozialismus?
Im Zentrum der Konferenz stand jedoch nicht die Frage nach einer Rechtmäßigkeit der Haft, sondern nach der Wahrnehmung der Speziallager
und damit auch stalinistischer Verbrechen in der Öffentlichkeit seit 1945. Bereits angelegt war in der Referatsfolge eine starke Westsicht auf das Thema.
Referiert wurde über die Ära Adenauer und die Bemühungen der SPD Inhaftierte ihres Ostbüros freizubekommen, über die bundesdeutsche Vergangenheitsdebatte seit den sechziger Jahren und über die Auseinandersetzung der 68er mit ihrer Elterngeneration, die für negative Auseinandersetzungen mit der SBZ/DDR keinen Platz ließen. Eindrücklich vorgeführt wurde diese Position von dem Psychoanalytiker Christian Schneider, der sich selber als “geläuterten 68er” bezeichnete und unter dem Eindruck einer Buchenwaldführung durch einen ehemaligen Speziallagerinsassen einen freien Vortrag über die Generationentheorie und über eigene ideologische Blockierungen hielt. Aufgrund
der Zugehörigkeit zur 2. Generation, die vor allem eine Identifizierung mit den Opfern der Eltern- bzw. Tätergeneration hervorbringe, falle es westdeutschen Wissenschaftlern schwer, sich kritisch mit dem Geschehen
in Ostdeutschland zu beschäftigen.
Eine Ausnahme von der eindimensionalen Westsicht bildete der Vortrag des Historikers Wolfram von Scheliha, der aufgrund von
Zeitschriftenartikeln in den unterschiedlichen Besatzungszonen die These wagte, dass die Berichterstattung über Speziallager von Beginn an auf beiden Seiten politisch motiviert war und instrumentalisiert
wurde.
Diese Meinung wurde jedoch in der Diskussion start kritisiert unter Hinweis darauf, dass eine “Instrumentalisierung” ein viel zu päjorativer Begriff sei und es immer auch der Meinungsfreiheit geschuldete Hintergrundberichte von Speziallagerinsassen gab, die nicht gleichzeitig antikommunistische Propaganda waren. Der von Scheliha untersuchte Zeitrahmen endete 1961 und es herrschte die einhellige Meinung vor, dass bereits vor Mauerbau das Interesse im Westen an kommunistischen Verbrechen weitgehend erloschen sei. Spätestens mit Beginn der Entspannungsphase Ende der 60er Jahre galt es dann auch nicht mehr als legitim, öffentlich darüber zu berichten.
Alexander von Plato versuchte in seinem Referat zumindest eine teilweise Antwort, warum das Thema des Speziallagers in Ostdeutschland
nach 1989 eine Radikalisierung erfahren hat. Seine ebenfalls generationstheoretisch bestimmte Analyse von Befragungen von Zeitzeugen ergab, dass es vor der Wende keinerlei Erzähltradierung gab, da die Betroffenen
schwiegen. Damit fand eine Auseinandersetzung zwischen der 1. und 2. Generation wie in Westdeutschland nicht statt und brach 1990 mit besonderer Kraft hervor.
Ein weiterer Vortrag, der wirklich nah am Thema der Veranstaltung war, kam von Petra Haustein, Politologin in Berlin. Ihr Referat über
die Auseinandersetzungen um die Neukonzeption der Gedenkstätte Sachsenhausen seit 1989 zeigte, wie schwer es war, einen Konsens zwischen den
NS-Opfern, den Opfern stalinistischer Gewalt und der Gedenkstättenleitung zu finden. Der Grund dafür liege vor allem in den verschiedenen Wahrnehmungsstrategien, mit denen die Konfliktparteien in die Auseinandersetzung gingen. Die NS-Opfer einte Anfang der 90er Jahre eine Angst vor dem “4. Reich” und einer Relativierung der Naziverbrechen insbesondere auch mit den Wissenschaftlern in der Gedenkstätte. Ein spezielles Problem der kommunistischen Opfer sei gewesen, dass Kritik am staatlich verordneten Antifaschismus der DDR automatisch als Ausgrenzungsstrategien empfunden wurden. Stalinistisch Verfolgte dagegen, besonders die Generation der HJ und Flakhelfer verfielen in eine Ablehnung individueller Schuld, was wiederum die Gedenkstättenexperten an Diskussionen mit den eigenen Eltern über die Schuldfrage erinnerte. Dieser hier nur kurz angedeutete Konflikt, wurde im Referat der Historikerin Bettina Greiner auf einer wesentlich abstrakteren Ebene gedeutet. Opfererfahrung sei nicht vermittelbar. Opfernarrative zielten lediglich auf einen oder mehrere Zuhörer als Adressaten, welche wiederum aus einer Identifizierung mit einer bestimmten Opfergruppe moralisches Kapital zögen. Einfacher ausgedrückt und von Fr. Greiner provokant zugespitzt: deutsche Opfer gäben nur moralisches Kapital, wenn sie auf ihre Täterschaft reduziert würden. Die Antwort auf die Frage, was dieses Modell zur praktischen Gedenkstättenarbeit und dem Umgang mit Zeitzeugen beitragen könnte, musste sie jedoch schuldig bleiben. Auch wenn es simpel klingt, ist die These, dass die Beschäftigung mit einer bestimmten Opfergruppe immer etwas mit einem selber und der eigenen Geschichte zu tun hat, eventuell der Schlüssel für eine zukünftige Entpolitisierung der Diskussion.
Abschließend gab
Bernd Faulenbach einen Überblick über das Gedenken im vereinten Deutschland und im vereinten Europa seit 1990. Er erläuterte, dass auch innerhalb von Europa Erinnerungskulturen konkurrierten. In Westeuropa wurde die grundsätzliche Sicht auf die Geschichte durch die Ereignisse von 1989 und durch das bekannt werden stalinistischer Verbrechen nicht wesentlich beeinflusst. Eine Tendenz sei allerdings ein zunehmendes Interesse der Forschung nach einer Beteiligung am Holocaust, wie z.B. in Frankreich, den Niederlanden und Polen. Als These für eine zukünftige Entwicklung gilt, dass westeuropäische Länder mit einer starken kommunistischen Partei sich stärker mit einer Aufarbeitung befassen werden müssen. Die Länder des ehemaligen Ostblock hätten keine homogene Erinnerungskultur. In den baltischen Staaten und der Ukraine gäbe es eine Art nachholender Nationalstaatsbildung, die einher ginge mit der kompletten Ablehnung der vorherigen Erinnerungskultur, d.h. einer Ablehnung der sowjetischen Geschichtsdeutung. Die 90er Jahre seien die Zeit der Zeitzeugen gewesen und damit eines individualisierten Zuganges zur Geschichte.
Dieser individualisierte Zugang spiegelt sich wie in Fernsehdokumentationen auch in den Gedenkstätten wider. Die Gestaltung der
Gedenkstätten für die Speziallager folgt zumeist einem biografischen Ansatz, nicht zuletzt da weitere Forschungen noch ausstehen und damit auch der Besucher zu einer Auseinandersetzung mit der Schuldfrage gezwungen
wird. Dies gelingt nicht immer. So zeigte eine Untersuchung der Einträge im Besucherbuch des Speziallagermuseums Buchenwald, dass die Besucher die Geschehnisse nicht unbedingt einordnen können. Einträge wie
z.B. “wie konntet ihr das den Juden nur zumuten” sprechen eine deutliche Sprache, wie sehr auch die Erwartungshaltung des Besuchers das tatsächlich Wahrgenommene beeinflusst. In den Diskussionen mit den
anwesenden Zeitzeugen wurde der bekannte Gegensatz zwischen ihren individuellen Erlebnissen und den wissenschaftlichen Ausführungen der Referenten immer wieder deutlich. Auch die unter der hand vorgebrachte Kritik
der Zeitzeugen, dass sich Fachwissenschaftler nie öffentlich für eine Rehabilitierung einsetzten, ist nicht neu. Ein zwiespältiger
Umgang mit den Zeitzeugen offenbarte sich auch zwischen den Museumsexperten. Während ein Teil große Befürchtungen hat, Geschichte durch die aussterbende Zeitzeugengeneration nicht mehr transportieren zu können, wurde die Forderung laut, Geschichtsvermittlung prinzipiell nur noch durch professionell geschulte Mitarbeiter vorzunehmen.
Aufgelöst wurde die Diskrepanz in der Referatsauswahl durch das abschließende Podium, an dem Vertreter aus der Gedenkstättenarbeit und
der Wissenschaft gleichermaßen vertreten waren. Es herrschte Konsens, dass die bereits 1994 von Bernd Faulenbach in der Enquete-Kommission aufgestellte Forderung “NS-Verbrechen weder relativieren, noch
kommunistische Verbrechen bagatellisieren” in der Gedenkstättenarbeit und der Umgestaltung insbesondere in den Gedenkstätten mit der sogenannten “doppelten Vergangenheit” Buchenwald und Sachsenhausen umgesetzt wurde
und auch weiterhin gültig sei.
Als weitere Grundvoraussetzung für eine historische Aufarbeitung wurde der von Jürgen Habermas postulierte “antitotalitäre Konsens” benannt. Es wurde betont, dass es keine Patentrezepte gäbe, wie das Thema der Öffentlichkeit näher gebracht werden könnte. Abgelehnt wurde jedoch die Unterstützung des sogenannten Dark Tourism, einem Tourismus, der (natürlich aus den USA) auf dem Erzeugen von gruseligen Schreckensbildern ohne jeden Bildungsanspruch funktioniert. Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum gerade beim Thema kommunistische Verbrechen die Spanne zwischen öffentlicher Wahrnehmung in Ostalgieshows und der Bereitschaft sich damit zu beschäftigen, so weit auseinander geht, ist der Hinweis darauf, dass der Kommunismus derzeitig nicht als Bedrohung empfunden werden müsse. Die neofaschistischen Tendenzen in Politik und Gesellschaft zwängen jedoch auch in Zukunft zu einer größeren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Als Fazit der Konferenz ist überdeutlich geworden , warum das Thema der Speziallager so lange ein Tabuthema war. Die zum Teil sehr
heftig geführte politisierte Diskussion um die Speziallagermuseen in den 90er Jahren ist auf einer sachlichen Ebene angelangt. Das hat vor allem damit zu tun, dass die befürchtete Relativierung von NS-Verbrechen
nicht stattgefunden hat. Es muss sich in Zukunft noch zeigen, ob die Speziallagermuseen in der Öffentlichkeit angenommen werden und welche Auswirkungen eine sich wandelnde europäische Erinnerungskultur hat.
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