Hearing im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus am 6. Juni 2006
Das Gutachten der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes "Aufarbeitung der SED-Diktatur" hatte bereits
vor Veröffentlichung viel Kritik geerntet. Dafür, dass auch innerhalb dieser Kommission Unstimmigkeiten herrschten, zeugte das Sondervotum von Freya Klier.
Einer der zentralen Vorwürfe an die Kommission lautete Verharmlosung der DDR-Diktatur bzw. Ostalgie, da in dem Papier eine Forcierung
der Erforschung der DDR-Alltagskultur gefordert wurde. Weitere zentrale Kritikpunkte entstanden aus der Forderung nach einer Professionalisierung der Aufarbeitungslandschaft und dem empfohlenen so genannten
3-Säulen-Modell der zukünftigen Aufarbeitung. Die drei vorgeschlagenen Forschungsschwerpunkte lauten "Herrschaft-Gesellschaft-Widerstand", "Überwachung und Verfolgung" sowie "Teilung und
Grenze". Vor allem die durch Bürgerengagement entstandenen Initiativen und Vereine fühlten ihre Arbeit diskreditiert und befürchteten durch eine zunehmende Zentralisierung ein Aufweichen der in den letzten
Jahren dezentral gewachsenen, lokalen Strukturen und eine Verknappung der Zuwendungen? Besonders umstritten waren auch die Empfehlungen für eine langfristige Auflösung der Birthler-Behörde (BSTU) und die Überführung
ihrer Akten ins Bundesarchiv.
Am 6. Juni diesen Jahres fand auf Einladung der Expertenkommission eine Anhörung statt. Teilnehmer waren die Mitglieder der
Expertenkommission, u.a. Prof. Dr. Rainer Eckert (Leipzig), Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke (Dresden), Freya Klier (Berlin), Tina Krone (Berlin), Ulrike Poppe (Berlin) und der Vorsitzende der Kommission Prof. Dr.
Martin Sabrow (Potsdam). In der ersten Runde kamen verschiedene Professoren mit 10 Minuten Redezeit zu Wort, in der 2. Runde eingeladene Vertreter der größeren Aufarbeitungsinitiativen, von Museen, Archiven,
Stiftungen
und politischen Bildungseinrichtungen mit jeweils 5 Minuten. Hervorzuheben ist die Einladung an die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), die mit ihrem Vorsitzenden Horst Schüler vertreten war. Zum Abschluss gab es ein offenes Mikrofon, an dem sich vor allem Vertreter von kleineren Aufarbeitungsinitiativen zu Wort meldeten. Nicht erschienen sind für die Berliner Senatsverwaltung Kultur Thomas Flierl (wegen Krankheit) und Jörg Drieselmann für die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße (ohne Angabe von Gründen).
Sehr schnell wurde bereits in der "Expertenrunde" Einigkeit darüber erzielt, dass mit Erforschung der Alltagskultur keine
Verharmlosung betrieben werden soll und auch keine Ostalgie in der Form der Erforschung von Ampelmännchen o.ä. gemeint sei, sondern eine systematische Untersuchung der Herrschaftsmechanismen in sämtlichen Bereichen
des "Alltags" wie in Kinder- und Jugendorganisationen, der vormilitärischen Ausbildung und in den Betrieben, um nur einige zu nennen. Einigkeit bestand auch darin, dass in der Vermittlung von
DDR-Geschichte gerade an den Schulen große Defizite bestehen und insbesondere in den westlichen Bundesländern durch das Fehlen von Museen oder Ausstellungen ein Mangel an Empathie andauert.
Das 3-Säulen-Modell wurde auf unterschiedlichen Ebenen kritisiert. Auf der inhaltlichen Ebene konnte sich (mit Ausnahme von Prof. Dr.
Manfred Wilke, der die 3-Teilung komplett ablehnte) darauf geeinigt werden, dass die verschiedenen Themen lediglich einen unterschiedlichen Zugang zum Gesamtkomplex der Aufarbeitung darstellten und keine voneinander
losgelösten Themen. Es wurde jedoch auch deutlich, dass die drei Komplexe sehr unterschiedlich gewichtet werden und die Empfehlungen der Kommission für die meisten lediglich als Arbeitsgrundlage gelten. So forderte
Dr. Joachim Gauck eine stärkere Konzentration auf die Bereiche der "Anpassung", in denen es gerade nicht um Opfer gehe und Prof. Dr. Richard Schröder einen stärkeren Vergleich mit der Diktaturaufarbeitung
in osteuropäischen Ländern. Verschiedene Vertreter unabhängiger Archive wie z.B. des Matthias-Domaschk-Archivs drängten auf eine stärkere Rolle des Widerstandes in der DDR. Vereinzelt wurde auf die “Berührungsangst
mit angenehmen Tatsachen” verwiesen (u.a. Prof. Schröder) wie den Erfahrungen der “Friedlichen Revolution” und der demokratischen Praxis der “Runden Tische” und der damit verbundenen komplett fehlenden Aufarbeitung
und auch öffentlichen Wahrnehmung des Zeitraumes 9.11.89 - 3.10.1990.
Bei der organisatorischen Ebene reichten die Verbesserungswünsche von der Forderung nach noch stärkerer Konzentration gemäß dem
Stiftungs-Modell der NS-Aufarbeitung (Prof. Dr. Reinhard Rürup) bis hin zur Betonung der Vorteile einer dezentralen Organisation. Dr. Hütter von der Stiftung "Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland" wies auf die Gefahr einer “Verinselung” der DDR-Geschichte hin. DDR-Aufarbeitung sollte immer auch Teil einer Nationalgeschichte bleiben und daher nicht von vier Institutionen organisiert werden.
Vertreter der Opfervereine wie der UOKG und der VOS und von kleineren Aufarbeitungsinitiativen schlossen sich dem Sondervotum von Freya Klier an, in dem insgesamt die frühzeitige "Historisierung" der
Aufarbeitung beklagt wurde und eine stärkere Konzentration auf noch bestehende "Seilschaften" und deren Zerschlagung gefordert wurde.
Vertreter der Kommission wiesen die Bedenken wegen der Umverteilung der Mittel zurück, in dem sie darauf hinwiesen, dass die Aufgabe
der Kommission vor allem in der Optimierung der Ressourcen bestand.
Über die zukünftigen Aufgaben der BSTU konnte sich nicht geeinigt werden. Für ihre Planungssicherheit forderte Marianne Birthler die
Zusicherung einer Mindestlaufzeit bis 2020, die von anderen Institutionen unterstützt wurde. Der zukünftige Verbleib der Akten konnte jedoch nicht geklärt werden. Hier meldeten sowohl das Bundesarchiv als auch
Länderarchive ihren Bedarf an. Ebenso wenig herrschte unter den Archivfachleuten Einigkeit darüber, ob eine Überführung ins Bundesarchiv eine Erschwerung des Aktenzugangs bedeute und damit erst nach Ende der
Akteneinsicht und der vollständigen Erschließung der Akten stattfinden könnte. Prof. Weber vom Bundesarchiv machte deutlich, dass eine vollständige Erschließung der Akten keine Voraussetzung für eine Überführung sei
und dass unter seiner Federführung keine Priorität zur Wiederherstellung der zerschreddertern Akten bestünde. Weiterhin vertrat er die Meinung, dass die Fixierung auf die Stasi-Unterlagen den Blick auf andere
Zugangsmöglichkeiten zur DDR-Geschichte verstellten.
Weitgehende Einigkeit herrschte über die Schaffung eines "Forum Aufarbeitung" (Arbeitstitel) für eine umfassende Darstellung
der drei Säulen der Aufarbeitung, eventuell im Gebäude der ehemaligen SED-Zentrale in der Torstraße 1. Der Ort Berlin wurde jedoch von Vertretern kleinerer Aufarbeitungsinitiativen in den Neuen Ländern stark
kritisiert, die betonten, dass auch andere Orte an den Geschehnissen beteiligt waren. In diesem Zusammenhang wies ein Vertreter der LSTU Schwerin auf die steigenden Anfragen aus den westlichen Nachbarländern hin,
denen die Beratungsstelle nicht nachkommen kann und stellte die Forderung nach einer stärkeren Bund/Länder-Verzahnung auf. Außerdem wurden u.a. von Heidi Bohley vom Verein für Zeitgeschichte Halle/Saale Bundesmittel
eingefordert, um die oftmals landespolitisch bestimmte Aufarbeitung unabhängiger fortführen zu können.
Nicht geklärt wurde die Frage, ob die DDR-Aufarbeitung den Methoden der Aufarbeitung der NS-Diktatur folgen sollte oder ob die
Unterschiede zwischen beiden Diktaturen eine noch zu schaffende eigene Methodik erforderten.
Die eigentliche Aufgabe der Kommission, die Schaffung eines Geschichtsverbundes wurde komplett allein wegen des Wortes
Geschichtsverbund abgelehnt. Ob an dessen Stelle eine Vernetzung oder ein Archivnetzwerk o.ä. treten soll blieb unklar.
Die Beiträge des Hearing und auch die nicht verlesenen Kommentare verschiedener Organisationen sollen demnächst in Buchform erhältich
sein - wenn die Finanzierung geklärt ist.
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