Die Deportationen von deutschen Frauen und Mädchen
in die Sowjetunion 1944/1945

Einleitung

Im Jahr 2005 jährte sich das Kriegsende  zum sechzigsten Mal. Anlässlich dieses Jahrestages erschien eine große Anzahl von Publikationen, die sich in die bereits bestehende unüberschaubare Menge an Literatur über den 2. Weltkrieg einreiht. Einige dieser Arbeiten brechen bewusst mit bestehenden Denkschemata, wie z.B. das 2005 erschienene Buch von Hubertus Knabe "Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland". Knabe vertritt in diesem Buch die These, dass Ostdeutschland erst 1989 befreit worden sei. Dieses Buch kann als Teil der neuen "deutschen Opferdiskussion" gesehen werden, die ungefähr zur Zeit der Veröffentlichung der Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass (2002) begann.

Diese neue Opferdiskussion steht unter dem Generalverdacht des Geschichtsrevisionismus, da sie vor allem das Leiden von Deutschen während und nach dem 2. Weltkrieg thematisiert. Ein in seiner Bewertung umstrittenes Thema, auch im Hinblick auf ein zukünftiges europäisches Geschichtsbild, ist die Vertreibung der Deutschen.

In der Öffentlichkeit wird unter dem Begriff der Vertreibung meist nur die Flucht und Evakuierung aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten des Deutschen Reiches, die Rückkehr Geflohener in diese Wohngebiete und die erneute Ausweisung wahrgenommen. Der Großteil der fachwissenschaftlichen Literatur beschäftigt sich auch mit diesem Teil des Vertreibungsprozesses und der späteren Aufnahme der Flüchtlinge in Westdeutschland, verbunden mit der Frage nach dem Erfolg der Integration in Westdeutschland. Weniger bekannt ist die Internierung, die oft mit Zwangsarbeit verbunden war, meistens in der Nähe des Heimatortes in polnisch, sowjetisch, tschechisch bzw. jugoslawisch regierten Gebieten zwischen 1945 und 1950. Nahezu unbekannt und auch in der Menge der Neuerscheinungen des Jahres 2005 kaum beachtet, ist die zur Vertreibung gegenläufige Richtung der Deportationen von Zivilpersonen Richtung Osten zur mehrjährigen Verrichtung von Zwangsarbeit. Daher widmet sich die vorliegende Broschüre der Untersuchung dieser Zivildeportationen in die Sowjetunion.

Mit dem Beginn des kalten Krieges und der doppelten deutschen Staatsgründung von 1949 ergab sich ein unterschiedlicher Umgang mit der Vertriebenenproblematik in beiden Ländern. Auf dem Gebiet der DDR erschienen die als "Umsiedler" bezeichneten Vertriebenen bereits Beginn der fünfziger Jahre nicht mehr in der offiziellen Statistik, da ihre Integration als abgeschlossen galt. Dagegen bildete sich in Westdeutschland sehr schnell eine Lobby für die Vertriebenen durch die Gründung von Landsmannschaften und der Vertriebenenpartei "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE), die zeitweilig auch als GB/BHE im Bundestag saß. Das Entstehen dieser Lobby, die jahrzehntelang mit Wiedergutmachungsansprüchen an die Öffentlichkeit getreten ist und aktuell mit der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibung Schlagzeilen macht, ist sicherlich ein Grund dafür, dass heute im öffentlichen Bewusstsein Vertreibung als eindimensionaler Prozess wahrgenommen wird und die Zivildeportationen in Richtung Sowjetunion nahezu unbekannt sind.

Von Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung sind im Kriegszustand besonders Frauen, Kinder und Greise betroffen. Nicht nur Kriegsgefangene wurden zur Verrichtung von Zwangsarbeit herangezogen, was hinlänglich bekannt ist, sondern auch Frauen und Mädchen. Das - fast vergessene - Schicksal dieser Frauen und Mädchen, die zu jahrelanger Schwerstarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden, soll im folgenden näher beleuchtet werden.

Die Angaben über die exakten Zahlen der Deportierten gehen weit auseinander. Daher wird im Kapitel 1 nach einer Darstellung der historischen Zusammenhänge die statistische Datenbasis untersucht, die zu Nennungen von 100.000 bis hin zu 1 Million Zivildeportierten führt. Auf den ersten Blick erscheint es, nicht nur unter statistischen Gesichtspunkten, schwierig, die Zivildeportationen als Teilprozess der Vertreibung zu behandeln. Bernd Faulenbach nennt jedoch in seiner Definition Deportation explizit als Teil dieses Prozesses: "Unter dem Begriff "Vertreibung" [...] wird ein mehrschichtiger, regional unterschiedlicher, mehrere Phasen umfassender Prozess gefasst, zu dem u.a. im vorherrschenden Verständnis gehören:
die Evakuierungen seit Herbst 1944, die allgemeine Flucht im Frühjahr 1945 mit Trecks oder über die See, die teilweise Rückkehr in die Wohngebiete, die Deportationen in die Sowjetunion, die Einrichtung von Internierungslagern und die Ausweisung".
Aufgrund dieser Schwierigkeit wird im Kapitel 2 untersucht, welchen Stellenwert  die Fachliteratur über Zivildeportationen in der Forschung über die Vertreibungen einnimmt, um sie anschließend einer näheren Analyse zu unterziehen.

Das verordnete Schweigen im Osten und die wirtschaftliche Aufbruchstimmung im Westen führten zu einer Verdrängung dieses Themas, welches erst mit der Wiedervereinigung 1990 wieder aufbrach. Auch das fortschreitende Alter der Beteiligten, von denen viele bei einer Rückschau auf ihr Leben, zum Teil in autobiographischen Veröffentlichungen, feststellen, dass dieser Teil der deutschen Geschichte nicht vergessen werden darf, trägt zur Aktualität dieser Diskussion bei. Im zweiten Kapitel dieser Broschüre soll daher weiterhin untersucht werden, in wie weit das Jahr 1990 eine Zäsur auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zivildeportationen darstellt.

Die zivildeportierten Frauen und Mädchen hatten in Westdeutschland eine regional unterschiedliche Chance auf eine Entschädigung, in Ostdeutschland dagegen keine. Bedingt durch die Wiedervereinigung, stehen die politisch Verantwortlichen deshalb vor der Notwendigkeit, Entschädigungsregelungen für jene Zivildeportierten zu treffen, die auf das Gebiet der DDR zurückgekehrt sind. Ein besonderes Problem stellt dabei die Herkunft eines Großteils dieser Zivildeportierten aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der heutigen Oder-Neiße-Grenze dar.
Dieses Problem soll durch eine Analyse der Diskussionen im Deutschen Bundestag seit 1990 im Kapitel 3 mit einer vorherigen kurzen Einführung in die rechtlichen Grundlagen dargestellt werden.

Im letzten Kapitel der Broschüre findet sich eine kleine Auswahl an Berichten von betroffenen Frauen über ihre Erlebnisse während der Deportation und der Zeit in der Sowjetunion.

Zu den Schwierigkeiten bei der statistischen Erfassung der Zivildeportationen kommt ein definitorisches Problem. Zivildeportierte werden in der Literatur außerdem sowohl als deutsche Zwangsarbeiter, Reparationsarbeiter, Verschleppte oder auch als Geltungskriegsgefangene bezeichnet. Eine Unterscheidung in Zivildeportierte, Reparationsarbeiter oder Geltungskriegsgefangene ist zuallererst für rechtliche Positionen und die daraus erwachsenden Entschädigungsansprüche relevant.Ebenso wichtig ist sie für eine völkerrechtliche Perspektive auf den Prozess der Vertreibung, die jedoch in dieser Broschüre ausgeklammert bleibt, da es zum einen ausreichend Literatur dazu gibt und zum anderen hier der historische Prozess der Deportationen im Vordergrund stehen soll.

In der aktuellen Diskussion wird der Begriff Zwangsarbeiter v. a. im Zusammenhang mit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" benutzt, der sogenannten Zwangsarbeiterstiftung der deutschen Wirtschaft, und es führt nur zu Verwirrung, neue Kategorien von Zwangsarbeitern aufzumachen bzw. zu dem Verdacht, dass Forderungen aufgestellt werden sollen, die von den Betroffenen gar nicht intendiert sind, auch wenn der Begriff Zwangsarbeiter de facto angebracht wäre. Der Begriff der Verschleppung betont in drastischer Weise die Willkür und die Vorgehensweise am Beginn der Deportationen und ist für eine wissenschaftliche Untersuchung ungeeignet. Da der Terminus Zivildeportation die zivile Komponente unterstreicht und nicht zuletzt weil die Betroffenen diesen Begriff vorziehen, wird dieser im Folgenden benutzt.

1 Vgl. Broszat, Martin (II): "Vertreibungsverbrechen" – ein missverständlicher Begriff, 230.

2 Reichling, Gerhard: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen, Teil I: Umsiedler,   Verschleppte, Vertriebene und Aussiedler 1940-1985, 28.

3 Faulenbach, Bernd: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder  und Neiße, 1.

4 Vgl. Kapitel 3.

5 Eine gute Einführung mit umfangreichem Literaturverzeichnis gibt Fiedler, Wilfried         (Hrsg.): Deportation Vertreibung "Ethnische Säuberung" . Völkerrechtlicher Stellenwert und wissenschaftliche Bewältigung in der Gegenwart,  Meckenheim 1999, insbesondere
Teil 2: Menschenrechte und Bevölkerungstransfer – Die Antwort des Völkerrechts auf die zwangsweise Dislokation von Bevölkerungsgruppen und Teil 3: Die Haager Landkriegsordnung und das Verbot von Vertreibung und Deportation.

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